Mythos ‚Ur-Getreide‘

Die schlechte Nachricht gleich vorweg: Das ‚Ur‘ ist ausgestorben!

Gemeint ist der Auerochse, das 1627 vom Menschen ausgerottete Wildrind. Desgleichen steht ‚Ur‘ für eine mythische Gestalt der Mandäer. Für einen Dämon, der Herr ist über das Reich der Finsternis und Widersacher der Lichtwelt. Nicht zuletzt war ‚Ur‘ auch eine der ältesten sumerischen Städte in Mesopotamien (im heutigen Irak) und lag somit im sog. Fruchtbaren Halbmond, der Wiege unserer Getreidearten.

 


Doch ‚Ur‘ wird allemal auch gleichgesetzt mit ‚ursprünglich‘. So lässt sich diese Vorsilbe in unserer kalten, technischen Welt als schier unerschöpfliche Quelle nutzen. ‚Ur‘ verspricht: da ist etwas echt, natürlich, unverfälscht, unbehandelt, ungespritzt, naturbelassen, von früher, authentisch – endlich mal keine Mogelpackung, kein leeres Versprechen. ‚Ur‘ schafft Vertrauen und erfüllt die Bedürfnisse des Menschen - in seiner Funktion als Konsument – in profitabler Weise. Besonders ergiebig scheint die Verbindung mit unserem Grundnahrungsmittel, dem Getreide.

Doch was genau ist Ur-Getreide? „Vor etwa 12.000 Jahren wurde im Gebiet des Fruchtbaren Halbmondes erstmals vom Menschen Wildgetreide systematisch gesammelt und als Nahrungsmittel genutzt. Etwa 2000 Jahre später kam es durch die Auslese vorteilhafter Mutationen zur Domestikation der ersten Kulturen. Es waren dies die Getreidearten Gerste, Einkorn und Emmer und die Hülsenfrüchte Kichererbse, Erbse, Linse und Wicklinse". (1)

Bei Dinkel hingegen handelt es sich um eine Weizenart, die jünger ist als unser Brotweizen. Dinkel ist keine Ur-Form des heutigen Weizens. „Der Europäischen Dinkel (Triticum spelta) ist sehr wahrscheinlich aus der Kreuzung von Emmer mit Binkelweizen (Triticum compactum) entstanden.“ (2) Er wurde nachweislich vor ca. 4.000 Jahren hier in Europa angebaut.

Im Ökolandbau und von handwerklich arbeitenden Bäckern werden heute oftmals „alte“ Sorten, wie der bekannte Oberkulmer Rotkorn, der gemäß Literatur Anfang 1900 in der Schweiz durch gezielte Auslese entstand, bevorzug. Charakteristisch für  die sog. alten Dinkelsorten sind lange Halme, ein hoher Gehalt an Kleberprotein und eine spezifische Kleberqualität, die geeignet ist für Bäcker*innen, die weiche, dehnbare, unelastische Teige als fachliche Herausforderung gerne annehmen. Insbesondere in der konventionellen Landwirtschaft kommen zahlreiche moderne, meist mit Saatweizen gekreuzte Dinkelsorten zum Einsatz. Sie weisen kurze Halme und festere Kleber auf, da sie für die intensive Landwirtschaft und eher industrielle Verarbeitungsverfahren gezüchtet wurden.

Insgesamt ist zu bedenken, dass alle Getreide-Sorten die zur Gattung Getreide (Weizen, Roggen, Gerste, Hafer, Reis, Hirse, und Mais) und zu den gängigen Weizenarten (Einkorn, Emmer, Hartweizen, Weichweizen, Khorasan, Dinkel) zählen, nicht mehr in ihrer ursprünglichen Form angebaut werden, sondern züchterisch bearbeitet wurden.

Fazit

Die Vorsilbe ‚Ur‘ sollte sich am Auerochsen und am Urwildeinkorn (Triticum urartu) orientieren und seines Weges ziehen. Fremdscham macht sich breit, bei so viel Ur-Sinn. Pardon, … Unsinn.

„Urgesundheit“, wie große industrielle Hersteller von Convenienceprodukten für die Backbranche glauben machen wollen, braucht weder „Urgetreide“ und extrudiertes Pseudo-Urgetreide sondern eine enkeltaugliche Anbauweise von nicht patentierten, vielfältigen, nachbau- und anpassungsfähigen, robusten Getreidearten, Getreidesorten und Populationen. Und, nicht zuletzt Bäcker*innen, die es verstehen, aus diesem Getreide - ohne die "Helferlein" die nicht in unsere Teige oder Massen gehören – handwerklich gute Brote und Gebäcke herzustellen.

Zitate und Hinweis

Mehr zur Abstammung und Züchtung in dem Artikel, aus dem die beiden Zitate 1 und 2stammen:  ,Spelzweizen – Wissenswertes zu Abstammung, Züchtung und Anbau‘, Artikel von Heinrich Grausgruber in der Fachzeitschrift der Arbeitsgemeinschaft Getreideforschung e.V. ‚Getreide, Mehl und Brot‘, Ausgabe 1/2019]

Artikel aus der Fachzeitschrift: "Getreide, Mehl und Brot", mit freundlicher Genehmigung des Moritz Schäfer Verlages